#KLEINEGRÖSSE

Die Covid-19-Pandemie und darauffolgende Einschränkungen haben Kunst- und Kulturschaffende vor bisher nicht dagewesene Herausforderungen gestellt. Die Arbeitsbedingungen von vielen Künstlerinnen und Künstlern sind zum Teil immer noch betroffen, öffentliche Ateliers sind unter strengen Auflagen betretbar und selbst die Beschaffung von manchen notwendigen Arbeitsmaterialien war vor einigen Wochen schwierig oder nicht immer möglich. Der früher so selbstverständliche rege Austausch bei öffentlichen Veranstaltungen wurde gehemmt oder ist nur in einem beschränkten Rahmen möglich. Nichts ist mehr wie es war.

Sowohl im künstlerischen als auch im ausstellenden Betrieb hat die Corona-Krise Spuren hinterlassen. Aber übersetzt aus dem Griechischen bedeutet „Krisis“ Entscheidung. Entscheidung für neue Wege, neue Lösungen und Chancen.


Das Projekt KunstSchauFenster, zu dessen Format stets Vernissagen, aktive Kunstvermittlung und Diskussionen auf Begleitveranstaltungen gehörten, musste nach neuen Möglichkeiten für einen adäquaten Auftritt suchen. Zusammen mit mehreren Künstlerinnen und Künstlern haben wir uns für kleinformatige Ausstellungen entschieden. Das Schaufenster wird auf die Dimension einer transportablen Vitrine verkleinert, die leicht von Ort zu Ort umziehen kann. Der Titel der Reihe wurde von Tanja Fender vorgeschlagen und lautet nun #KLEINEGRÖSSE. Die Idee dahinter: sowohl erwähnte Einschränkungen zu thematisieren und auch ihnen zu trotzen: selbst im Kleinen kann man seine Größe zeigen.


Die Vermittlung der Ausstellungsinhalte, Erläuterung der Kunstwerke und wichtige Referenzpunkte werden hier auf der Website geboten. Zur schnellen Navigation zum entsprechenden Kunstwerk und zum Projekt wird auch einen QR-Code angeboten, der stets neben der Vitrine zu finden sein wird.

Hannes Stellner.
Beauty Farm

28.08.2020 - 18.09.2020 im Schaufenster des designbüro x-height, Sedanstr. 1, 83022 Rosenheim
Mit Unterstützung von www.designingsounds.com

Hannes Stellner, Installation “the carpet too is moving under you”, ehem. Klosterkirche in Traunstein, 637 Ohren aus Stuckgips, Länge je 63 cm, 2005. Foto Klaus-Maria Einwanger

Ohren sind das Markenzeichen von Hannes Stellner. Seit über 30 Jahren gilt dieses Körperteil als Lieblingsmotiv des Künstlers. In der Kunstgeschichte gilt die Fähigkeit, Ohren und Hände gekonnt darzustellen, als Beweis für künstlerische Tauglichkeit, weil diese Körperteile mit am schwierigsten zu zeichnen bzw. zu modellieren sind. Für Hannes Stellner hat das Gehörorgan eine wichtige symbolische Bedeutung, es ist eine Aufforderung zum Aufhorchen, ein reduziertes Idealbildnis, das ästhetische wie spirituelle Qualitäten hat.

Die Miniaturarbeiten, die in dem KunstSchauKasten unter dem Titel “Beauty Farm” im Rahmen der Reihe #KLEINEGRÖSSE ausgestellt werden, gehen auf eine große Rauminstallation in der ehemaligen Klosterkirche in Traunstein zurück. Jetzt, 15 Jahre danach schuf der Künstler eine Miniaturedition: kleine Silberohren als Ohrstecker. Für Hannes Stellner sind diese Arbeiten das bisher kleinste Format in seinem Oeuvre. Anzumerken sei, Hannes Stellner arbeitete auch hier als Bildhauer, sein Wunsch war es, keinen klassischen Schmuck herzustellen, sondern tragbare Skulpturen. Hierfür kennt die Kunstgeschichte schöne Prezedenzfälle, so hat beispielsweise Alexander Calder einst Ohrringe als kleine Mobiles - seine Signature-Form - für Peggy Guggenheim gemacht.

Die Verwandlung der Miniaturskulpturen zu Ohrsteckern verdanken wir der Kooperation mit der Autorenschmuckkünstlerin Jutta Klingebiel. Im Schaukasten sind sowohl Ohrstecker als auch Reliefs aus Messing und Silber zu sehen, die unterschiedliche Herstellungsphasen auf dem Weg zur Edition veranschaulichen.

Mehr zum Thema Ohr im Oeuvre von Hannes Stellner ist in der Audiobegleitung zu hören.

Die Schmuckedition und beide Modellplatten sind zu erwerben, die Ohrstecker werden einzeln angeboten.

Modell aus Wachs, hergestellt nach der Vorlage des Miniaturmodells für die Installation in der Klosterkirche in Traunstein (2005, siehe Foto oben) für die Schmuckedition 2020. Größe einzelner Ohren ca 12x6 mm

Tanja Fender.
Noli Me Tangere

29.07.2020 - 17.08.2020 im Schaufenster des designbüro x-height, Sedanstr. 1, 83022 Rosenheim
Medienpartner: Cityguide Rosenheim

“Die Körper sind Orte der Ausstellung, auch der Ausstellung der Haut, Exposition - ex-peau-sition. Haut wird erobert, bewohnt, dekoriert. Die Berührung der Haut ist nie nur körperlich. Sie ist immer auch seelisch oder spirituell. Vor allem die der nackten Haut”

- Jean-Luc Nancy im Interview für Max Joseph, das Magazin der Bayerischen Staatsoper

Tanja Fender setzt sich mit dem Thema der Nähe und Berührung auseinander. Noli me tangere – Fass mich nicht an! – sagt Jesus Christus zu Maria Magdalena, als sie ihm als erste nach der Wiederauferstehung begegnet. Sie erkennt ihn nicht sofort, hält ihn für einen Gärtner und erst nachdem er sie bei ihrem Namen nennt, weiß sie, wer das ist und streckt ihre Hand nach ihm aus – eine Geste der Liebe und der existenziellen Vergewisserung. Er weist sie ab. Die Berührung ist aufgrund seines Zwischenzustands unmöglich: zwischen Tod und Leben, Himmel und Erde, zwischen dem menschlichen und dem geistigen Dasein. Zu dieser undefinierten Sphäre wird der Mensch nicht zugelassen, weil das Mysterium der Verwandlung unantastbar ist, aber auch weil der Mensch die Begegnung damit nicht verkraften würde. Dieser neutestamentarische Distanzgebot wird in letzter Zeit oft zitiert. Berührung und Nähe erlebten in den letzten Monaten eine Neubewertung. Eine Umarmung als Geste der Zuneigung und Geborgenheit kann auch als Gefahr (auch für den Berührenden selbst) oder Rücksichtslosigkeit interpretiert werden.

Berührung, Körperlichkeit, Haptik waren schon immer wichtige Aspekte für Tanja Fenders Kunst. Die Wirkung ihrer Plastiken, die meist tierische, oft anthropomorphe Körper darstellen, ist immer komplex. Man schwankt zwischen dem taktilen Wunsch und Scheu davor. Tanjas florale Skulpturen lösen ähnliche Gefühle aus. Was vollkommen neu ist: die Künstlerin ergänzt ihre plastischen Arbeiten mit einer Fotoserie, die online präsentiert wird. Darin begibt sie sich auf eine Symbiose mit ihrem Werk. Silikonpflanzen mit roten Glasbeeren legt sie sich um den Busen oder wie ein Collier um den Hals, hält einen kleinen Ast mit Blättern und Früchten mit einer Dürerschen Geste vor die Brust. Diese Kompositionen nennt sie Körperlandschaften. Die Pflanzen wirken biomorph, verselbständigen sich insektoid auf dem Körper der Künstlerin, umarmen ihn mit ihren tentakelartigen Ästen.

Die Nacktheit versinnbildlicht das aktuell so kontrovers diskutierte Thema der Berührung. Wie so oft bei Tanja Fender, vermitteln auch diese Bilder eine Gratwanderung zwischen Zärtlichkeit, Schutzlosigkeit und Verletzung. Die Materialbeschaffenheit der Plastiken, Form und Farbe in Kombination mit der nackten Haut lassen an Fetisch denken, der jedoch sehr fashionable ist, im Sinne eines Alexander McQueen – siehe beispielsweise Kollektionen Dante (1996), La Poupée (1997) und Sarabande (2007), in denen Schönheit und Schmerz miteinander einhergehen. McQueens Körperästhetik und Metaphorik beruht auf profunder kunsthistorischer Basis, die Kreationen zitieren Altäre von Bosch, beziehen sich auf Kunstkammern und Anatomiestudien des 16. Jahrhunderts, offenbaren Vorliebe zu Gothic Novel.
Mehr zu Alexander McQueens Werk hier unter dem Link zu V&A Museum.

Tanja Fenders Körpermetaphorik lässt vergleichbare Bezüge zu. Persönliche Ikonographie geht bei ihr mit der kunsthistorischen Tradition einher. So tragen die Pflanzen rote Früchte aus Glas, die im Licht wie kleine rote Augen funkeln. Sie verkörpern das innere Glühen, das Blut und die körperlichen Prozesse. Die Künstlerin spannt den gedanklichen Bogen noch weiter: das Glas, das unter hohen Temperaturen aus Siliziumsand entsteht, vergleicht sie mit Magma, dass man als vulkanisches Glas immer wieder in der Natur vorfindet als Zeugnis eines glühenden Innenlebens des Erdkörpers. Einerseits ist es sicher ein Statement im Rahmen der aktuellen Umweltdiskussionen, andererseits hat es auch einen poetischen ikonographischen Aspekt. Erstarrtes Blut als rote Steine darzustellen – meist Korallen – hat eine kunsthistorische Tradition. Man glaubte, Korallen seien Blutstropfen von Medusas abgetrenntem Haupt, die im Meer erstarrten. Deshalb wurden sie gern in den Kunstkammern gesammelt und als Talismane benutzt, um den bösen Blick abzuwenden. Interessanter Ansatz, denn eigentlich war Medusa ein Monster, das mit ihrem Blick alles erstarren ließ. Bei Tanja Fender ist der Mechanismus nicht unähnlich: eine unheimliche zarte Umarmung mit Pflanzententakeln gegen die Unmöglichkeit der Nähe?