Schlaeffer, Kern und Stähle.
Ein Schelmenroman
 

7. – 22. Dezember 2023 | Mit Christian Schlaeffer, Philipp Stähle und Vincent Kern – Kuratiert von Dr. Olena Balun
Eröffnung am 7. Dezember,19 Uhr
Adresse Büro Stähle und Brugger: Maistr. 45, 80337 München (Mittwoch–Samstag 14–19 Uhr)

Ein Schelmenroman ist eine hybride Literaturform, deren Charakteristika beziehungsreich und fließend sind. Es ist eine Gattung, die Abenteuerroman mit satirischer Komponente und fingierte Autobiografie vereint. Der Held solcher Romane begibt der auf eine Reise und erzählt humorvoll von seinen Erlebnissen und Begegnungen. Er gibt sich oft argloser als er ist, verfügt aber über einen erheblichen Weitblick. Ohne explizite moralische Wertung wird darin den gesellschaftlichen Missständen ein Spiegel vorgehalten. Stilistisch sind Übertreibungen beliebt, Reales und Fiktion gehen ineinander über, einzelne Kapiteln und Episoden sind vor allem durch die Figur des Protagonisten verknüpft, ihre Reihenfolge ist additiv und kann variieren. 

All diese Merkmale sind auf die künstlerische Praxis von Philipp Stähle, Vincent Kern und Christian Schlaeffer übertragbar. Zwar auf unterschiedliche Art und Weise, dennoch als gemeinsamer Nenner. Im kuratierten Schelmenroman treten sie als Protagonisten und Co-Autoren auf, vereint durch Abenteuerlust, literarische Kennerschaft, Neugierde und Humor.

Philipp Stähle arbeitet in erster Linie als Maler, zu seinem Oeuvre zählen aber auch Skulpturen, Zeichnungen, Druckgrafik und Texte. Letztere erinnern an kurze Tagebucheinträge, wobei das Autobiografische und das Fiktionale schwer voneinander zu trennen sind. Sie schildern mit Humor alltägliche Episoden, kritisch, aber selten wertend. Ein charakteristischer Zug dieser Arbeiten sind verdrehte Sinnsprüche. Seit Jahren sammelt der Autor diese Versprecher, deren unbeabsichtigte Fehler die Perspektive des Gesagten verändern oder gar den Sinn vertiefen.

Die Abenteuerlust des Künstlers gilt den Bergen. In seinen Gemälden, Zeichnungen und auch in den Texten treten sie als doppeldeutige Metaphern auf. Sie sind der Inbegriff der Sehnsucht nach Freiheit und zugleich ein Symbol des menschlichen Leistungsdranges alles zu bezwingen, ein Sinnbild des Erfolges und des heroischen Scheiterns. Bildtitel und integrierte Texte verschärfen ironisch diese Ambivalenz.
Der soliden Festigkeit der Berge setzt der Künstler in der Ausstellung das verspielte Motiv der Palmen entgegen. Die tropischen Gewächse sind nicht ohne Gedanken an Sigmar Polke entstanden, bei dem diese Versatzstücke der Urlaubslandschaft politisch konnotiert sind und für ein trügerisches Idyll stehen. Bei Philipp Stähle ist es ähnlich. Die Weihnachtskartenedition ist nicht nur eine scherzhafte Anspielung an Fernweh- und Kälteflucht. Die Palme als der neue Christbaum kann auch mit der akuten Klimasituation gesehen werden.

Die großformatige Radierung vereint Berge und Palmen. Mit schelmischer Freude gesetzte Akzente und Details bestimmen die Bilderzählung. Der pyramidale Berg schwebt in der Luft, er hat sich die Freiheitssehnsucht zu eigen gemacht und hat nun keinen Halt mehr. Seine schwerelose Wucht ragt nicht nur nach oben, sondern spiegelt sich auch nach unten. Mehrere Querschnitte in dem Gestein verstärken seine surreale Leichtigkeit. Palmen wachsen grazil und keck aus dem steinigen Grund nach oben und nach unten, das macht die Landschaft freundlicher: das Besteigen wäre ein Abenteuer und Urlaub zugleich, wenn nur die ganzen erörterten Umstände das nicht unmöglich machen würden. Aber selbst die Unmöglichkeit ist ungewiss, denn jemand muss ja das kleine Gipfelkreuz aufgestellt haben.

Philipp Stähle, links: Zeichnungen, rechts: Am Ende des Radwegs, 2023, Acryl auf Leinwand, 100x70 cm, Foto Patrick Brugger

Vincent Kern, links Gemälde aus der Reihe “Fundamentale Wechselwirkung“, Acryl auf Leinwand, rechts: Serie “Bald wirst du…”, 2023, Tusche und Gouache auf Papier, je 61x43 cm, Foto Patrick Brugger

Vincent Kerns Malereien und grafische Arbeiten kennzeichnet ein markanter expressiver Stil, geprägt von großzügigem Duktus und Eklektik (kunst)historischer Referenzen. Die Werke sind gegenständlich und verfügen über eine spezielle Art der Narration. Handelnde Personen werden mit aussagekräftigen Attributen ausgestattet und in einem signifikanten Moment gezeigt, die Handlung selbst findet aber immer im Off, außerhalb des Bildes bei den Betrachtenden statt, die die Charaktere auch noch nach ihrem Geschmack besetzen dürfen.

Die neue Serie „Bald bist du...“ ist genau nach diesem Prinzip konzipiert. Die Bilder zeigen bewaffnete Gestalten in pittoresken Posen, man denkt an Piraten und Konquistadore. Es knallt und explodiert. Die Bilder zeigen immer den Moment vor dem Einschlag der Kugel, explosive Druckwellen verdecken die Körper, Rauchwolken und Gewänder sind leicht zu verwechseln. Manchmal sind Explosionswolken das einzige, was man in Bild sieht. Der Stil entschärft die offensichtliche Brutalität. Zum einen durch manierierte barocke Eleganz der Posen, zum anderen ist es das Comichafte und die Fragmentierung des Geschehens. Die Blätter haben keine festgelegte Reihenfolge, bei additiver Zusammenfügung ergeben sie jedes Mal neue Kombinationen und Episoden: ein variables barockes Graphic Novel.

Wie so oft bei Vincent Kern zeigt auch diese Reihe theatralisch-karnevalesken Züge. Durch tänzerische Haltung wirken Piraten und Soldaten als Gaukler, die Schlacht wird zum Ballett. Das betrifft allerdings nicht die Leinwände der Serie “Fundamentale Wechselwirkung”, die das Thema der Zeichnungen aufnimmt, die durch das Kolorit und den Duktus eine viel drastischere Bildsprache aufweist.

Die Vorliebe zur Täuschung und Verkleidung setzt sich in der Lithographischen Edition fort. Diese ist als Weihnachtskarte komponiert, nur statt der Heiligen Familie wird man von dem finster schauenden Dante Alighieri empfangen. La Commedia Divina wird zur Commedia dell'Arte.

Christian Schlaeffer ist Trickfilmzeichner, Regisseur und Schöpfer von virtuellen Welten. Sein Stil ist stark von japanischer Kunst inspiriert. Feine, detailreiche Naturdarstellungen und skurrile Erotik in den Radierungen erinnern sowohl an japanische Holzschnitte des 19. Jahrhunderts als auch an Anime von Katsuhiro Otomo. Die Videoarbeit „Hands as well as feet pretty well useless“ ist auch davon beeinflusst und ist sehr charakteristisch für Schlaeffer. Sein künstlerisches Abenteuer gilt dem Experiment und der Entdeckung. Mediale, historische und naturwissenschaftliche Recherche gehören dabei zu den wichtigen Tools.

Genretechnisch vereint die ausgestellte Videoarbeit Elemente des Naturfilms und Body Horror, wobei sie zum Schluss mit Special Effects beinah zu einem Tiermärchen mutiert. Der Film wird in einem Schaukasten präsentiert, ähnlich einem Kinetoskop aus dem 19. Jahrhundert, in dem immer nur eine Person kurze Filme sehen konnte. Die dadurch geschaffene Zuschauersituation erzeugt ein voyeuristisches Gefühl, sowohl aufgrund der Präsentation als auch der vermeintlich expliziten Filmästhetik. Die Handlung ist minimalistisch, wir folgen einer Raupe, die durch eine Landschaft krabbelt. Die größte Spannung, Unsicherheit und Irritation erzeugt die Landschaft selbst, die übertrieben fleischlich wirkt. Sie bewegt sich, atmet, bebt, Härchen stellen sich wie vor Erregung auf. Wülste, Falten und Furchen, Hautlappen lassen an Genitalien denken, dabei gibt es keine einzige vollständige oder anatomisch korrekte Darstellung der vermuteten Organe, gerade das lässt sie umso drastischer erscheinen. Übertriebene Organik der Haut wird mit absichtlicher Künstlichkeit der Raupe und der Pflanzen konterkariert, was zur Steigerung der Unsicherheit darüber führt, ob man sich erregen, ekeln, gruseln oder schmunzeln sollte. Die vermeintliche Peep-Show erweist sich als Frankensteins Labor. Als letzteres sieht der Künstler seine Werkstatt, in der er mit Hilfe von KI Neuschöpfungen generiert. Fehler gelten in diesen Experimenten als willkommen, denn gerade sie erzeugen die Kreatürlichkeit.

Der Titel „Hands as well as feet pretty well useless“ bezieht sich auf die Aufzeichnungen der Antarktis-Expedition von Robert Falcon Scott von 1910-1913. Im Film spiegelt sich das Interesse des Künstlers an der Ethologie, der tierischen Verhaltensforschung. Diese Forschung befasst sich unter anderem mit der Frage, auf welche visuellen Reize der Körper beim Paarungsverhalten in der Wahrnehmung reduziert werden kann. In Rahmen der besagten Expedition haben Forscher zum ersten Mal das Sozialverhalten von Pinguinen beschrieben. Aus der Publikation wurde die Passage über deren Sexualverhalten entfernt, die man für unmoralisch hielt. Sie beschrieb, wie niedrig die Reizschwelle der Vögel war, den Männchen reichte eine dunkle Oberseite eines Objektes, um angeregt zu werden.

Christian Schlaeffer, Installation “Hands as well as feet pretty well useless”, 2023, 10:48 min, Foto Patrick Brugger

Christian Schlaeffer, Filmstill aus “Hands as well as feet pretty well useless”